Liebste Eve
Es sind schon viel zu viele Tage vergangen, seit ich das letzte Mal für einen Girl Talk in die Tasten gehauen habe. Als gäbe es keine emotionalen Themen, die mich beschäftigen. Mitnichten! Eigentlich hätte ich einen Berg an Inhalten, die nur darauf warten, einmal auf ein weisses Papier gebracht zu werden. Aber wie es eben so ist, kümmere ich mich lieber um die Scherben der Anderen, als vor der eigenen Haustür zu wischen. Ist ja auch viel einfacher und bequemer.
Halbes Tempo
Voller Stolz kann ich verkünden, dass ich letztens (endlich!) die Entscheidung getroffen habe, meinen Fuss etwas vom Gaspedal wegzunehmen und den Moment zu geniessen. Seit ich also die Fäden über mein kleines Puppentheater aus der Hand gegeben habe, stelle ich schmunzelnd fest, wie viel besser ich andere und damit auch mich selbst verstehe. Der Kopf ist irgendwie leichter und auch wieder fähig zu kreieren: Gedanken, Ideen und Analysen. Alles nur eben keine Lebenspläne.
Zu meiner neuen Haltung gegenüber der Gegenwart hat mich auch das Werk «Moral Phobia» von Bitten Stetten und Judith Mair gebracht. Dabei handelt es sich um eine, wie sie selbst beschreiben, gegenwärtige gesellschaftliche Momentaufnahme, die sich minütlich ergänzen liesse.
Moral Phobia ist unnatürlich, übergewichtig, unbekümmert und undiszipliniert. Es raucht und trinkt, isst Fleisch, treibt kaum Sport und war gestern Nacht wieder der letzte Gast. Moral Phobia vernachlässigt soziale Netzwerke und Selbstoptimierungsangebote und plädiert für das Alberne und Abseitige, Fremde und Faule, Undurchsichtige, Unbequeme, Überflüssige und Verstörende – in der Hoffnung auf weniger aufgeräumte, vielfältigere Zeiten.
Ja, Moral Phobia ist sozusagen ein Nachschlagewerk, das in 566 Einträgen die gegenwärtigen Phänomene und Tendenzen der Normierung, Optimierung, Disziplinierung und Moralisierung aus dem Hier und Jetzt abbildet. Ich gebe zu, diesem Werk gegenüber nicht ganz unparteiisch zu sein: Die Autorinnen, zwei Powerfrauen, waren während meines Studiums nicht nur tolle Dozentinnen, Wegbegleiterinnen, sondern auch grösste Inspirationsquelle. Umso mehr freut es mich jetzt, scheint auch ihr Werk mich weiter voranzutreiben.
Fab the Rebel?
Bei der ersten Durchsicht des ABCs fällt mir auf, dass ich zu vielen Begriffen eine klare Meinung habe oder sie gar als normal interpretiere. Daher habe ich mir einige Phänomene herausgepickt und sie in loser Reihenfolge im Bezug zu meiner Person gestellt:
Mir, als gemässigte Nicht-Raucherin mit Hang zu Konsum und dem neusten «Shit», excusez-moi, sind natürlich die vielen trendigen Superfoods (wie Acai, Chia-Samen, Matcha-Pulver, Weizengras-Pulver etc.) namentlich ein Begriff, die meisten habe ich sogar in der Küche stehen. Kapitalismus 1 – Fab 0.
Der Bed Hair Style sieht bei mir morgens aber anders aus, als in den wenigen Zeilen beschrieben, weit weniger sexy, vielleicht auch, weil es real und nicht hingezüchtet ist. Normcore ist und bleibt mir ein Rätsel, auch wenn ich es schlicht mag, im Normcore-Look würde ich nicht einmal zum Briefkasten laufen. Der morgendliche Chai Latte habe ich mittlerweile durch einen Soy Latte ersetzt, und Digital-Detox ist für mich ein Angebot, mit dem man Geld verdienen kann, aber langfristig keine Lösung ist. Grünes Coca Cola halte ich für ein Green Washing, da trinke ich lieber Wasser aus einer Glasflasche mit Zitrone und Pfefferminz, wegen der Gesundheit und so.
Wenn ich Zeit habe betreibe ich Food Porn doch ganz gerne, das Kinfolk Magazin oder der ChariTea sind ganz okay, aber in ihrer jeweiligen Sparte wurden sie mittlerweile in ihrer Vorreiterrolle von anderen abgelöst.
Das Duckface beherrsche ich perfekt, Selfies dagegen eher weniger. Die Bikini Bridge oder die Thigh Gap sind für mich der Inbegriff von schlechtem Vorbild für junge Mädchen, den Zucker habe ich zu Hause aber schon lange durch Agavendicksaft ersetzt.
Adventure without risk is Disneyland.
Welchen Zielen jagen wir hinterher?
Bei der Durchsicht dieser vielen Tendenzen und Kuriositäten musste ich mich wirklich fragen: Brauchen wir das alles? Aus welchen Bedürfnissen sind diese Sachen überhaupt entstanden? Geht es heutzutage nur noch mit minutiös geplanten Wochentagen? Tage vollbepackt mit exotischen Sportarten, dem Durchblick bei den neusten Gesundheitstrends und lustigen Hypes auf der ganzen Welt? Ich finde dazu keine Antwort. Ich bin aber der Ansicht, dass es für unsere Entwicklung nicht gut sein kann, sich gegenüber Neuem zu sperren, keine Verantwortung zu übernehmen oder nur auf das persönliche Wohl Rücksicht zu nehmen.
Aber und nun zum Schluss meine persönliche Moralkeule: Es lohnt sich ab und zu den eigenen Tagesablauf wieder etwas distanzierter zu betrachten und zu hinterfragen, womit man wirklich nicht mehr leben kann oder besser sollte. In diesem Sinne: Danke, liebe Moral Phobia, ich erhole mich jetzt vom Muskelkater von heute Morgen, esse Ungesundes und treffe mich mit Leuten, mit denen ich meine Zeit gerne verbringe.